Mittwoch, 9. November 2011

Ist Reiten Sport?

„Reiten ist ja gar kein richtiger Sport!“ Es gibt wohl keinen Pferdefreund der Welt, der diesen Satz so oder so ähnlich nicht schon einmal gehört hat. Es sind vor allem jene nicht-reitenden Mitmenschen, die diesen Standpunkt vertreten. Ihr Argument: Der Reiter sitzt ja nur als Pilot obendrauf, die Muskelarbeit macht das Pferd größtenteils alleine.
Letzteres wird kein Reiter bestreiten wollen, natürlich trägt das Pferd den größeren Anteil der Kraftanstrengung. Das heißt aber nicht, dass der Reiter auf seinem Rücken sich nicht ebenfalls sportlich betätigt. Jeder, der schon einmal eine Verstärkung oder Seitengänge einigermaßen korrekt geritten ist, wird bestätigen können, dass man sogar als fortgeschrittener Reiter noch manchmal Muskelkater bekommt. Hier liegt nämlich der gravierende Unterschied: Sich von einem Pferd durch die Gegend schaukeln zu lassen ist nicht „Reiten“.
Trotzdem ist schon das bloße Sitzen auf einem sich in den drei Gangarten bewegenden Pferd durchaus sportlich. Der Reiter muss seine Balance finden und halten, er muss sich den Bewegungen des Pferdes anpassen, weil es sonst eine sehr holprige Angelegenheit wird. Das setzt ein ständiges An- und Abspannen der gesamten Rumpf- und Gesäßmuskulatur voraus. Sowohl zu viel, als auch zu wenig Spannung verhindern, dass der Reiter sich den Bewegungen des Pferdes anpassen kann und er mutiert schnell zum Wurfgeschoss. Korrekte Hilfen lassen sich nur durch unabhängiges Anspannen von Teilen der Muskulatur, Entspannen anderer Muskelgruppen, minimale Gewichtsverlagerungen und ein ständiges Annehmen und Nachgeben umsetzten.
Mit der körperlichen Belastung vergleichbare Disziplinen bei den „richtigen“ Sportarten sind zum Beispiel das Turnern und die Gymnastik, bei denen ebenfalls konstant zwischen An- und Entspannung der Muskulatur gewechselt wird. Um auf dem Schwebebalken glänzen zu können, müssen die Turnerinnen wie die Reiter auch das richtige Gleichgewicht aus Anspannung und Lockerheit finden. Und das Absolvieren einer mehrere Kilometer langen Vielseitigkeitsstrecke im zügigen Galopp kommt durch die ähnliche Körperhaltung den Belastungen der Ski-Abfahrt schon sehr nahe; nicht ganz so intensiv und rasant, dafür aber über eine längere Zeit.
Es gibt außerdem einen weiteren nicht zu unterschätzenden Faktor: Die Mentale Anstrengung beim Reiten. Denn das Pferd folgt den Hilfen des Reiters. Daraus lässt sich logisch folgern, dass der Reiter immer etwas vorausdenken muss, um die Hilfen zum richtigen Zeitpunkt geben zu können. Zugleich muss sich der Reiter auch immer „das große Ganze“ vor Augen halten, den Parcours oder die Dressuraufgabe zum Beispiel. Reiter sind nicht nur Sportler, sondern eben auch Strategen, wie Schachspieler (wenn Schach Sport ist, dann Reiten ja wohl auch?!) und Sportschützen, aber auch Spieler in den Mannschaftssportarten. Während sich die mentale Anstrengung beim Laufen mehr auf das Durchhalten und linker Fuß-rechter Fuß beschränkt, ist beim Reiten unter körperlicher Belastung eine sehr hohe Denkleistung gefordert, die es so bei nur wenigen anderen olympischen Sportarten gibt.
„Olympisch“ ist ein gutes Stichwort. Denn seit der Antike sind Pferde Teil der Olympischen Spiele und haben damit vielen der uns heute bekannten Disziplinen (inklusive der gesamten Winterspiele) einiges voraus. Zuerst waren es die Wagenrennen und Galopprennen; übrigens ohne Sattel zu Reiten, den gab es damals nämlich nicht. Allein deshalb sollten die Reitwettbewerbe als elementarer Teil der Olympischen Sommerspiele betrachtet werden; und Olympische Disziplin kann man nicht sein, wenn man keine richtige Sportart ist. Natürlich folgt diese Argumentation dem Schema vom Huhn und vom Ei, aber Reiten als Sportart war eben zuerst da!

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